Euer Berichtsstakkato kotzt uns an!

Oder: Zur Qualität und zum Rassismus des hiesigen Lokaljournalismus

Weil auch wir immer wieder Bauchschmerzen mit dem hiesigen Lokaljournalismus haben und eine „Stadt für alle“ selbstverständlich ein antirassistisches Grundverständnis hat, veröffentlichen wir die Stellungnahme einiger Antifaschist*innen zur Berichterstattung der PNN zur Antirassistischen Demo am Samstag, den 22.08.2020:

Wir dokumentieren:

Sechs Monate nach dem rassistischen Attentat in Hanau wurde am vergangenen Wochenende auch in Potsdam der Opfer gedacht und der deutsche Rassismus gemahnt. Und dann greift die Potsdamer Lokalpresse in ihrer eiligen Suche nach reißerischen Schlagzeilen gründlich daneben.
Die PNN schießt sich in ihrem Bericht über die Demonstration auf die Rede der Geschäftsführerin der Opferperspektive ein [1], ein Potsdamer Verein, der seit vielen Jahren Opfer rechter Gewalt berät. Judith Porath würde die Polizei angreifen und auch die Stadt Potsdam. Die Kritik am Gesagten ist allerdings inhaltlich so dermaßen hanebüchen, dass man meinen könnte, der Autor hätte sich eine pauschale Diskreditierung zum Tagesziel gemacht. Judith Porath redet über rassistische Stigmatisierung und Gewalt, der Menschen ohne weiße Hautfarbe auch in Brandenburg noch immer tagtäglich ausgesetzt sind, auch durch Beamte. Sie spricht auch über die fahrlässige Unterbringung von Geflüchteten in Massenunterkünften, die dort dem Coronavirus schutzlos ausgeliefert sind.

Wer traut schon den Opferverbänden?

Für ersteres ist sich die PNN nicht zu fein, fehlende Belege für Poraths Aussagen zu monieren. Der Verein ist die erste Instanz zur Unterstützung von Opfern rechter Gewalt und Diskriminierung in Brandenburg, seit vielen Jahren. Kaum eine Organisation dürfte eine vergleichbare Qualifikation zur Einschätzung zu Art und Umfang rassistischer Vorfälle im Land haben. Zu kritisieren, dass zu einzelnen Aussagen in einer Rede auf einer Protestkundgebung keine Belege angeführt werden, ist lächerlich. Wohl kaum kann man verlangen, dass vor 500 Menschen Details aus den Schicksalen der Klient*innen offengelegt werden, die sich der Opferperspektive anvertrauten. Schließlich werden viele rassistische Übergriffe in Deutschland eben nicht bei der Polizei vorgebracht aus der Angst heraus, nicht ernst genommen zu werden oder eben aus Angst vor der Art Täter-Opfer-Umkehr, wie sie die PNN hier nebenher schon mal anklingen lässt. Denjenigen, die sich auf die Seite der Opfer stellen, wird zunächst einmal mit Skepsis begegnet, selbstverständlich ahnt man Ungenauigkeit, Übertreibung oder gar Lüge. Der Verein gibt regelmäßig Berichte mit umfangreichem Zahlenmaterial heraus. Die reflexartige Darstellung im PNN-Artikel ist ein Lehrstück über das, was in dem Artikel selbst als „so genannter“ struktureller Rassismus abgetan wird. Zur Kenntnis genommen hat der Autor sicherlich auch, dass vor Kurzem im Nachbarland Berlin ein Gesetz auf den Weg gebracht wurde, dass den Betroffenen von Rassismus durch Staatsdiener*innen den Weg zur Anzeige erleichtert. Schön wäre gewesen, hätte der Autor die Rede zum Anlass für weitere Recherchen genutzt, um Poraths Darstellungen auf den Grund zu gehen. Noch schöner hätten wir gefunden, gar eine journalistische Glanzleistung wäre aus dem lauwarmen Bericht geworden, hätte der Journalist aus der von maßgeblich durch People of Color organisierten Demonstration nicht nur eine weiße Rednerin zitiert, sondern vielleicht auch ein paar Worte der dort anwesenden schwarzen Pressesprecherin mitgenommen. Vermutlich hätte sie ihm einiges an Belegen zu Poraths Äußerungen beibringen können. Eine andere Möglichkeit wäre übrigens gewesen, der Veranstaltung noch eine Weile beizuwohnen und später den Ausführungen Lutz Boedes über Polizeigewalt gegenüber vietnamesischen Gastarbeiter*innen zu lauschen.

Potsdam ist nicht Brandenburg

Weiterhin stört den Autor, dass Porath so gar nicht mit lobendem Eifer erwähnt hatte, dass die Stadt Potsdam vor kurzem einen Beschluss für einen Zeit- und Maßnahmenplan erstellt hat, dessen Ziel die Abschaffung der Sammelunterkünfte in Potsdam ist. Ganz von allein und aus eifrig antirassitischen Motiven sind die Stadtverordneten auf diese Idee nicht gekommen, dafür war erst eine weltweite Pandemie und der Druck zivilgesellschaftlicher Organisationen nötig. Doch so oder so, Potsdam ist nicht Brandenburg. Die in der Rede beschriebenen Zustände, denen Menschen auf der Flucht in Brandenburg ausgesetzt sind, sind aktuell. Beispielsweise für 400 Geflüchtete in der Unterkunft in Hennigsdorf. Im ganzen Land sind tausende Menschen gezwunden in Massenunterkünften zu leben, in denen Abstand halten unmöglich ist. Auch in Potsdam leben hunderte Menschen auf engstem Raum und sind so einem deutlich erhöhten Infektionsrisiko ausgesetzt.

Der Beschluss der Potsdamer Stadtverordneten, die erzwungene Unterbringungsform aufzulösen, ist sehr zu begrüßen. Doch wer regelmäßig für die Potsdamer Neuesten Nachrichten schreibt, könnte wissen, dass auch ein Beschluss erst in die Tat umgesetzt werden muss und auch ein Maßnahmenplan zu Gunsten – oder Ungunsten der Betroffenen ausfallen kann. Dass dessen Umsetzung die Menschen noch während der Pandemie in sicherere Wohnformen ziehen lässt, bleibt unwahrscheinlich. Lobende Worte können wir ja danach noch finden.

Etwas Haltung, bitte!

Doch damit nicht genug. Der Autor schreibt über den Attentäter von Hanau von einem „mutmaßlich“ deutschen Rassisten. Wir empfehlen dem Autor dringend mehr Mut und eine Packung Rückgrat. Natürlich ist es richtig, dass qua Presse keine Vorverurteilung stattfinden darf, auch nicht, wenn der Täter nicht mehr am Leben ist. Doch wenn ein rassistisches, antisemitisches Pamphlet als Begleitlektüre zu einem Anschlag veröffentlicht wird und gezielt neun nicht-weiße Menschen zu ermorden noch immer nicht ausreicht, damit der Täter in der PNN als nicht mutmaßlicher, sondern handfester Rassist bezeichnet werden darf, wissen wir auch nicht mehr weiter. Zur Not hätte sich der Autor ja auch auf die Aussage des Präsidenten des Bundeskriminalamts Holger Münsch beziehen können: „Das BKA bewertet die Tat als eindeutig rechtsextremistisch. Die Tatbegehung beruhte auf rassistischen Motiven“ [2]. Um darauf zu kommen, hätte es gereicht, kurz bei Wikipedia nachzuschlagen.

Gelungen, aber da geht noch was!

Und der Vollständigkeit halber noch ein paar Sätze zur Berichterstattung in der MAZ [3]: Nein, nicht neun ausländische Mitbürger hat der Anschlag in Hanau das Leben gekostet. Fünf von ihnen waren tatsächlich deutsche Staatsbürger. Inwiefern jemand dann noch Ausländer (oder Ausländerin!) ist, lässt sich bestimmt prima bei einem Bier auf der nächsten MAZ – Klausurtagung beraten. Staatsbürgerschaft schützt tatsächlich vor Rassismus nicht. Dieses Licht hätte der MAZ eventuell nach dem Interview mit dem deutschen Staatsbürger Ferat Koçak aufgehen können. Trotzdem finden wir den Artikel insgesamt gelungen.

Viele Grüße, einige besorgte antifaschistische Bürger*innen Potsdams

[1] ://www.pnn.de/potsdam/anti-rassismus-demo-in-potsdam-verein-opferperspektive-greift-polizei-und-stadt-an/26119440.html

[2] https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-03/anschlag-hanau-bka-chef-bericht-rassismus-rechter-terror

[3] https://www.maz-online.de/Lokales/Potsdam/Antirassimus-Demo-in-Potsdam-mit-ueber-500-Teilnehmern

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