Grün im Herbst – Chlorophyllverlust

oder Bündnisgrüne Grundsätze im Wandel der Zeit

Die Grüne Partei in der DDR wurde (heute vor 31 Jahren) auf dem 6. Ökologieseminar am 24.-26. November 1989 in Berlin-Treptow ins Leben gerufen. Auch Potsdamer*innen waren daran beteiligt. Drei Jahrzehnte später: Eine Bundesvorsitzende der Partei Bündnis90/Die Grünen lebt in Potsdam und das Direktmandat des Landtagswahlkreises gewann ebenfalls eine Grüne. Die Bündnisgrünen sind Teil der Rathauskooperation in Potsdam. Grüne Präsens auf allen politischen Ebenen.

Letztes Wochenende verabschiedeten Bündnis90/Die Grünen ihr neues Grundsatzprogramm. Viele Gründe, um den Fragen nachzugehen: Alles im „grünen“ Bereich“? Was ist übrig von den Eckpfeilern der sozial-ökologischen, pazifistisch-gewaltfreien und auf Geschlechterparität und Basisdemokratie ausgerichteten Bewegung? Sind wir auf dem Weg zu einer Gesellschaft (einer Stadt) für alle?

Potsdam hat den Klimanotstand ausgerufen. Tagtäglich staut sich der Autoverkehr. Immer mehr Flächen werden den Investoren geopfert. Die Mieten steigen stetig und die Segregation ist in keiner anderen ostdeutschen Stadt (mit Ausnahme von Rostock) deutlicher als hier ausgeprägt. Schauen wir über den Tellerrand, schauen wir auf Punkte die zur Umsetzung einer sozialeren, gerechteren und ökologischeren Entwicklung unerlässlich erscheinen und vielerorts debattiert werden: Grundsicherung, Teilhabe, Klimaschutz, Frieden.

Die Debatte über ein Grundeinkommen als Grundsicherung aller, ist nicht neu. Die Corona-Krise machte die Notwendigkeit einer neuen Form der Grundsicherung deutlich. Gäbe es ein Grundeinkommen, würden viele Soloselbstständige, Künstlerinnen und Künstler wohl gerade nicht um ihre Existenz bangen. Andererseits gilt: Wird das Vorhaben Grundsicherung falsch aufgesetzt, kann es teuer werden.

Der Reformvorschlag nach einem bedingungslosen Grundeinkommen schafft es nicht ins neue Grundsatzprogramm. Die Bündnisgrünen, die mit dem Schröder-Kabinett die Hartz-Gesetze mit auf den Weg brachten, sehen zwar ein, dass nach fast zwei Jahrzehnten eine Reaktion notwendig ist, scheuen aber wirkliche Reformen. Die Arbeitslosenquote ist zwar niedriger als damals. Allerdings geht die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander. Die prekäre Beschäftigung ist nach wie vor auf einem zu hohen Niveau (Tendenz steigend). Viele Menschen sorgen sich um die eigene wirtschaftliche Situation und Zukunft. Der Mietenwahn erhöht in den Städten den Druck.

Die Grünen setzt lediglich auf eine „sanktionsfreie Garantiesicherung“. Das soll das Existenzminimum finanziell sicherstellen. Ergänzt soll dies durch passgenaue Arbeitsförderung. „An Stelle der Aktivierungs- und Sanktionspraxis muss ein System der passgenauen Förderung, Beratung und Vermittlung auf Augenhöhe treten.“ Das klingt doch echt lieb, wie eine Öko-FDP. In weiteren Schritten sollen die Sozialleistungen zusammengeführt werden. Bei dem ganzen Prozedere bleiben also die entwürdigenden Bettelanträge und die Herabsetzungen durch Behörden erhalten. „Dabei orientieren wir uns an der Leitidee eines Bedingungslosen Grundeinkommens“ steht dann doch noch zur eigenen Gewissensberuhigung im neuen Grundsatzprogramm. Die hiesige Parteichefin Annalena Baerbock kommentierte diese Selbsttäuschung höchstpersönlich: „Das sei kein Kompromiss, sondern ein Sowohl-als-auch, funktioniere in der Parteitagslogik, aber nicht im realen Leben.“ Richtig.

Die Debatte um neue Formen der Teilhabe an politischen Entscheidungsprozessen ist ebenfalls nicht neu. Die Bündnisgrünen selbst entstanden in West wie Ost aus diverseren Bürger*innenbewegungen. Gern bezeichneten sie sich als Anti-Partei, als parlamentarischer Arm vielfältiger inhaltlicher Bewegungen und forderten zurecht neue Formen der Mitsprache. Bereits vor 30 Jahren gründete sich auch aus grünen Kreisen heraus der Verein Mehr Demokratie, der sich für direkte Demokratie und Bürgerbeteiligung sowie Reformen des Wahlrechts in Deutschland und der Europäischen Union einsetzt. Eine Vorläuferorganisation „Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung“ gründete sich bereits 1971! Das Verlangen der Menschen, die parlamentarische Demokratie zu ergänzen und zu erneuern ist uralt. Aller vier Jahre ein Kreuz zu machen reicht den meisten Menschen nicht. Immer öfter entsteht nicht nur das Gefühl, sondern auch die Erkenntnis, das Parlamente an der Realität der Menschen vorbei agieren. Zahlreiche Bürgerbegehren hier in der Stadt oder im Land machen dies deutlich. Unter Rot-Grün votierte 2002 im Bundestag die Mehrheit der Abgeordneten für die Einführung einer Volksabstimmung als ein Element von Teilhabe. Eine Verfassungsänderung wurde durch die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion jedoch verhindert. Jetzt stellen sich die Bündnisgrünen gegen Volksabstimmungen! Der frühere Bundestagsabgeordnete und Mitbegründer des Mehr Demokratie e.V. Gerald Häfner nannte dies „grüne Selbstamputation“.

„Für die Entwicklung von Demokratie und Recht sieht die GRÜNE PARTEI folgende Schwerpunkte: > die Möglichkeit von Volksbefragungen, Volksabstimmungen und Volksentscheiden als Verfassungsrecht auf allen Ebenen; > Gewährleistung von Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit; …“ (Auszug aus dem Hallenser Programm der Grünen Partei in der DDR vom Februar 1990).

Der Parteivorsitzende Habeck warnt vor einer Polarisierung der Gesellschaft durch Volksabstimmungen, da nur mit ja oder nein abgestimmt werden kann. Was ist falsch an einem klaren „Atomkraft Nein Danke“ oder „Kohleausstieg bis 2030, ja unbedingt!“? Die Bündnisgrünen wollen jetzt Bürgerräte ermöglichen. Das Ergebnis sind temporäre und unverbindliche Bürger*innenvoten zu Einzelthemen. Diese Ergebnisse täuschen Teilhabe vor, sind aber leichter durch die Parteien zu hintertreiben. Nach der FDP sind die Grünen die zweite Partei, die die Forderung nach Bürgerräten in ihr Grundsatzprogramm aufgenommen hat.

Die grüne „Kernkompetenz“ ist die Ökologie. So zumindest die weitläufige Meinung. 100 Prozent Erneuerbare Energien und die Forderung nach mehr ökologischem Landbau sind nur zwei Schlaglichter in der Debatte. Reicht das? Wem sollen die Energienetze gehören, wem der Boden? Nicht gestellte Fragen.

Beim Klimaschutz ist für die Politik der Grünen das Klimaabkommen von Paris und der Bericht des Weltklimarats zum 1,5 Grad-Ziel eine „zentrale Grundlage“. Klingt progressiv. Klimaexpert*innen warnen allerorts oder schlagen sogar Alarm. Die Zeit drängt. Die Politik muss stark an Tempo zulegen bei der Reduzierung des Treibhausgas-Ausstoßes. Deshalb sollte das 1,5 Grad-Ziel nicht nur „zentrale Grundlage“ oder eine Orientierung sein, sondern ZIEL des Handelns. Klare grüne Zielstellung: Fehlanzeige! Und das im Grundsatzprogramm! Was soll dann erst in einzelnen Wahlprogrammen stehen, wenn es darum geht, sich „breiten Schichten der Bevölkerung“ anzudienen.

Luisa Neubauer, ein mediales Aushängeschild der jüngsten Klimaschützer*innnen-Generation von fff (und paradoxerweise selbst Mitglied der Partei) kommentierte „Die Grünen kommen ihr etwas panisch vor. … Die Formel hat sich in ihre Köpfe eingebrannt: Viel Klima heißt weniger Stimmen. Sie denken, Fridays for Future tasten ihre heiligen 20 Prozent an“. Die Grünen im Spagat zwischen Verbundenheit mit den Aktivist*innen von heute und den Erinnerungen an die eigene Vergangenheit einerseits und dem Willen zur Macht sowie der Bereitschaft zum (persönlichen) und inhaltlichen Opportunismus. In einem Video, das auf dem Parteitag eingespielt wurde, sagt eine Aktivistin, sie hätten »sehr viel Enttäuschung« erlebt, aber die Grünen seien die Partei, in die sie am meisten Hoffnung setzten. Bündnis90/Die Grünen als das geringere Übel im Kampf gegen den Klimawandel.

Koalitionsfähigkeit vor Standhaftigkeit. Auch an friedenspolitischen Positionen wird eine grüne Regierungsbeteiligung ganz bestimmt nicht scheitern. So kommentierte der Politologe Jürgen Walter den Sinn und Zweck des Programmentwurfs bereits im Vorfeld. Das ist wenig überraschend, aber in der Deutlichkeit wenigstens mal ehrlich! Es gibt im Programm ein klares Bekenntnis zu militärischen Interventionen, als „äußerstes Mittel“.  

Erinnert sei an der Stelle daran, dass es die SPD und Bündnis90/die Grünen waren, die erstmals nach dem 2. Weltkrieg wieder deutsche Soldaten in den Krieg schickten. Speziell Joschka Fischers Propaganda öffnete damals die Tore der Kasernen. Ein Glücksfall für die Konservativen, die nun schon seit über 20 Jahren deutsche Soldat*innen in sogenannte Auslandseinsätze schicken. Krieg ist bekanntlich die Fortsetzung imperialer Politik mit anderen Mitteln. Zur Erinnerung: Die NATO griff 1999 die Bundesrepublik Jugoslawien an, ohne dafür ein UN-Mandat zu haben und ohne dass ein NATO-Mitgliedsland angegriffen wurde.

„Kollateralschaden“ wurde im gleichen Jahr von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Unwort des Jahres 1999 gewählt. Als Begründung nannte die Jury die „Verharmlosung der Tötung Unschuldiger als Nebensächlichkeit“.

Zurück zu den drei Eingangsfragen:

Alles im grünen (ökologischen) Bereich? Nein, noch lange nicht. Der rasante Klimawandel erfordert Handlungen und mittlerweile auch eine politische Radikalität, sowie das Verlassen der Komfortzone. Davon sind Bund, Land und Stadt weit entfernt, auch da wo Grüne mitregieren.

Was ist übrig von den eigenen Werten der Neunziger? Wenig; lediglich in Gleichstellungsfragen ist Verlass auf Bündnisgrün.

Eine Gesellschaft für alle? Später mal, vielleicht. Erstmal setzen wir weiterhin auf Eigentum und Eigenverantwortung, auf die Ellbogengesellschaft und die Linderung der Symptome.

Die Bündnisgrünen sind in der trägen Mitte der Wohlstandsgesellschaft angekommen. Sie sind deren „gutes Gewissen“. Und nach nicht mal zwei Generation sind sie etablierter Teil eines Problems: der globalen Ausbeutung und Umweltzerstörung, auch Kapitalismus genannt. Das kleinere Übel spendet einigen Hoffnung, nimmt aber mit diesem Grundsatzprogramm nicht die Zukunftsängste der Fridays-for-Future-Generation.

Grüne Ideale sind vergilbt.

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