Aktuell haben wir eher den Eindruck, dass weder Politik noch Gesellschaft in der Lage sind, aus der Geschichte zu lernen. Die mediale Aufregungspolitik, rechter Kulturkampf und Denunzierung Andersdenkender sowie die Kriegstüchtigkeit als Leitmotiv der weiteren nationalistischen Entwicklung bestärken diesen Eindruck.
Über ein Jahr ist es her, dass in Potsdam in rechten Kreisen offen über „Remigration“ gesprochen wurde. Die Aufregung ist abgeebbt. Ebenso die Empörung darüber, dass in Potsdam für viele Millionen Euro Steuergeld ein umstrittener Prestigebau der ewig Gestrigen, der politischen Klasse und (national)protestantischen Kirche errichtet wurde: der Turm der Garnisonkirche.
Stadt-für-alle hat vielfach darüber geschrieben. Wir sind aber zum Glück nicht die Einzigen. Im aktuellen Magazin des Online-Portals „Lernen aus der Geschichte“ werden zum Jahresende unterschiedliche Orte deutender Vergangenheit vorgestellt, die eines gemeinsam haben – sie sind oder waren umkämpft. „Ob beim Wiederaufbau preußischer Stadtschlösser, in der Erinnerung an die Opfer von NS-Verbrechen und an rechtsextreme Gewalt oder im Umgang mit dem Erbe der DDR: Immer geht es darum, welche Geschichte diese Orte erzählen und wer darüber entscheidet. Ebenso wichtig ist die Frage, wie diese Entscheidungen getroffen werden: Wie demokratisch verlaufen die Aushandlungen oder Umdeutungen?“
Und Potsdam mitten drin. Geschichte wird gemacht – von Menschen. Umkämpfte Orte im Spannungsfeld von Geschichtspolitik und Demokratiebildung sind auch ein Spiegelbild einer nach rechts abdriftenden und sich militarisierenden Gesellschaft sowie einer demokratischen und bürgerinnenbewegten Opposition.
Damit Niemandem der Lesestoff über die Feiertage ausgeht, hier zwei Links zum Themenkomplex Garnisonkirche und Rechenzentrum (Beiträge von Achim Saupe und Sabrina Pfefferle):
- https://lernen-aus-der-geschichte.de/Lernen-und-Lehren/content/15878
- https://lernen-aus-der-geschichte.de/Lernen-und-Lehren/content/15879
und ein Beitrag von Michael Siems über die Gedenkstätte in der Lindenstraße:
3. https://lernen-aus-der-geschichte.de/Lernen-und-Lehren/content/15883
sowie das Interview mit Phillip Oswalt zu „Deutungshoheiten im Stadtraum – über den Wiederaufbau des Hohenzollernschlosses in Berlin-Mitte“ bei dem auch die Garnisonkirche als Potsdamer Äquivalent zum Berliner Stadtschloss zur Sprache kommt.
4. https://lernen-aus-der-geschichte.de/Lernen-und-Lehren/content/15876
Hinweise:
- Achim Saupe schreibt über „Stadtbildreparatur oder revisionistische Denkmalsetzung? Der Konflikt um den Wiederaufbau der Potsdamer Garnisonkirche“. Saupe ist Historiker am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und wissenschaftlicher Geschäftsführer des Leibniz-Forschungsverbunds „Wert der Vergangenheit“. Er beleuchtet im Beitrag den Wiederaufbau der Potsdamer Garnisonkirche und zeigt, dass sowohl die Initiative als auch die städtebaulichen Diskussionen darüber bereits in den 1980er Jahren begannen. Er erklärt: „Tatsächlich ist aber das Argument, dass sich hier Geschichte verdichte, nur bedingt überzeugend, denn vor wenigen Jahren war der Ort ja eine Brache neben einem in die Jahre gekommenen DDR-Neubau.“ und schlussfolgert: „Dafür ist es unerlässlich, den urbanen Gegenentwurf – das Rechenzentrum in seiner jetzigen Nachnutzung – zu bewahren und zu fördern.“
Ein Teil des Fazits lautet so: „Geschichte lässt sich erzählen, dokumentieren, ausstellen, kritisch aufarbeiten – und auch bauen oder nachbauen. Die Garnisonkirche taugt weder zur positiven Identitätsbildung noch uneingeschränkt zur kritischen Auseinandersetzung. Ein Ausweg wäre, das Ensemble aus Turm und Rechenzentrum als „Ort der Demokratie“ weiterzuentwickeln, was derzeit in der Stadt allerdings nur halbherzig als möglicher Kompromiss verfolgt wird. Aus historischer Sicht bleibt der Garnisonturmbau zu Potsdam vor allem eine revisionistische Denkmalsetzung; aus städtischer Perspektive ein Unternehmen, das ein bedeutendes Bauwerk wiedererrichtet. Auch wenn der Turm nur eine Aussage unter vielen in einem demokratischen Gemeinwesen ist, wird man auch künftig wachsam bleiben müssen, was hier veranstaltet wird.“
2. Sabrina Pfefferle vergleicht die Bildungsangebote der Stiftung Garnisonkirche und des Lernorts Garnisonkirche in Potsdam. Sie ist freie Autorin und hat sich vielfach vor Ort ein Bild gemacht. Ihr Diskussionsbeitrag „Akteure der Gestaltung (anti)demokratischer Räume: Das Beispiel Garnisonkirche Potsdam“, zeigt auf, dass ihrer Beobachtung nach, die Ausstellung im Turm der Garnisonkirche die Frage, inwiefern der eigene Wirkungsort bereits Produkt gesellschaftlicher Projektionen und Regressionen ist, weitestgehend umgeht. „Damit wurde die Chance verpasst, ausgehend von den historischen Befunden zur ideologischen Verflechtung von Kirche, Traditionalismus und Militarismus eine Brücke zur Gegenwart zu schlagen. Ebenfalls wenig Raum nimmt die Bedeutung der (Garnison)Kirche im Kontext der imperialistischen Außen- und Kolonialpolitik des Deutschen Kaiserreichs sowie in den politischen Systemen der Weimarer Republik und der DDR ein.“
Bezüglich des alternativen Lernortes Garnisonkirche (im RZ wie im Web) schreibt sie: „Er verortet das Baugeschehen nicht nur historisch, sondern zieht die Linie bis in die Gegenwart: Er fragt nach den gesellschaftlichen Vorstellungen, politischen Kräften und Formen nationaler Erinnerungskultur, die damals wie heute, hinter der (Re)Konstruktion eines Symbols preußisch-autoritären Denkens stehen. Durch diesen Gegenwartsbezug gelingt es, Fragen nach Demokratie und Teilhabe nicht nur historisch, sondern unmittelbar politisch zu stellen – und eine weiterführende Reflexion über die Bedeutung von Bauwerken als Träger kollektiver Erinnerung anzuregen: Warum und für wen bauen politische, kirchliche und wirtschaftliche Entscheidungsträger*innen Symbole vergangener Macht wieder auf? Und was sagt dieser architektonische Rückgriff über unsere Gegenwart aus?
Auch sie spricht sich im Fazit für ein Nebeneinander von Turm und Rechenzentrum als neues Potential für Potsdam aus. „Hier werden unterschiedliche Narrative, Deutungen und Interessen greifbar; hier wird die Geschichte des Ortes nicht „versöhnt“, sondern verhandelt. Diese Spannung könnte zu einer Stärke des Potsdamer Erinnerungsortes werden, wenn sie bewusst ausgehalten und nicht durch den Wunsch nach geschlossenen Geschichtsbildern aufgelöst würde. Ob die kostspielige Rekonstruktion eines Bauwerks vergangener Jahrhunderte das wert war, bleibt jedoch fraglich.“
3. Michael Siems schreibt über die „Bildungsarbeit an einem Ort mit mehrfacher Vergangenheit. Ein Erfahrungsbericht aus der Gedenkstätte Lindenstraße in Potsdam“. Michael Siems ist Historiker und leitet die Bildungsabteilung der Gedenkstätte Lindenstraße in Potsdam. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören inklusive Pädagogik und Geschichtsvermittlung in der Migrationsgesellschaft. Unser Fazit lautet: Artikel lesenswert, Besuch der Gedenkstätte empfehlenswert.
