Stell dir vor, es ist COP 27 und niemand hört hin. Stattdessen erleben wir aktuell eine verbale Gewaltwelle als Mittel der politischen Auseinandersetzung, der Ablenkung vom Thema Klimawandel und der Kriminalisierung Andersdenkender. Ganz rechts ist von einer Klima-RAF die Rede. Und dieser Unfug, im Stile von Donald Trump, findet medialen Widerhall in öffentlich-rechtlichen Formaten und Zeitungen.
Gewalt bedeutet umgangssprachlich Schädigung und Verletzung von Personen oder Sachen. Der Begriff „Gewalt“ wird dabei häufig auch synonym zu dem Begriff „Aggression“ gebraucht, bzw. als Teilmenge von Aggression verstanden.
Die WHO hat in ihrem 2002 veröffentlichen „World Report on Violence and Health“ eine detaillierte Typologie von Gewalt vorgelegt, in der Gewalt verstanden wird als: „Der absichtliche Gebrauch von angedrohtem oder tatsächlichem körperlichen Zwang oder physischer Macht gegen die eigene oder eine andere Person, gegen eine Gruppe oder Gemeinschaft, die entweder konkret oder mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Verletzungen, Tod, psychischen Schäden, Fehlentwicklungen oder Deprivation führt.“ Diese Definition umfasst zwischenmenschliche Gewalt ebenso wie selbstschädigendes oder suizidales Verhalten und bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Gruppen und Staaten. In der Ukraine erleben wir derzeit die gewaltsame Aggression Russlands.
Der Friedensforscher Johan Galtung unterscheidet drei Typen von Gewalt: personale, strukturelle und kulturelle Gewalt. Bei personaler Gewalt sind Opfer und Täter eindeutig identifizierbar und zuzuordnen. Strukturelle Gewalt produziert ebenfalls Opfer. Aber nicht Personen, sondern spezifische organisatorische oder gesellschaftliche Strukturen und Lebensbedingungen sind hierfür verantwortlich. Mit kultureller Gewalt werden Ideologien, Überzeugungen, Überlieferungen und Legitimationssysteme beschrieben, mit deren Hilfe direkte oder strukturelle Gewalt ermöglicht und gerechtfertigt, d.h. legitimiert wird. Johan Galtung sieht einen engen Zusammenhang zwischen diesen Gewaltformen und beschreibt das Dreieck der Gewalt als Teufelskreis, der sich selbst stabilisiert, da gewalttätige Kulturen und Strukturen direkte Gewalt hervorbringen und reproduzieren. Der Gewaltbegriff Galtungs zeigt, dass es nicht ausreicht, Gewalt lediglich als zwischenmenschliche Handlung – als Verhalten – zu begreifen. Es müssen auch religiöse, kulturelle und gesellschaftliche Legitimationssysteme und auch gesellschaftliche Strukturen berücksichtigt werden, wenn es darum geht, Gewalt als komplexes Phänomen zu verstehen.[1]
Allerdings gibt es noch die seelische und psychische Gewalt. Das ist beispielsweise das Mobbing. Dabei verletzt jemand die Gefühle eines anderen Menschen: Man macht ihm/ihr Angst, verhöhnt oder entmutigt ihn/sie.
Bei diesem Punkt sind wir längst angekommen. Schon seit 1972 mit „Grenzen des Wachstums“, also seit 50 Jahren wird vor den Problemen der Klimaänderung gewarnt. Getan wurde bisher wenig, auch in Deutschland, Brandenburg oder Potsdam. Die junge Generation sieht ihre Zukunft in Gefahr. Mit Recht!
Natürlich sind den Mächtigen die Kids von „Fridays for Future“ im Nachgang lieber, als die Aktivist*innen der diversen Klimagruppe die derzeit mit zugespitzten Aktion des zivilen Ungehorsams agieren. Anfänglich wurden die „Fridays“ nach gleichem Muster als Schulschwänzer*innen diffamiert und in ihrem Anliegen damit diskreditiert. Heute geht es gegen die Aktivist*innen von „Ende Gelände“, „Letzte Generation“ oder „scientist rebellion“. Da kam der Verkehrsunfall in Berlin gelegen. So konnte selbst die tote Radfahrerin den Aktivist*innen angelastet werden. Längst hat sich herausgestellt, dass diese Dinge nichts miteinander zu tun haben, aber die Debatte gegen die Klimaaktivist*innen läuft auf allen Kanälen und in vielen Zeitungen weiter.
Seit dem furchtbaren Unfall entlädt sich ein Gewitter über der Klimabewegung, nicht aber über mangelnde Verkehrssicherheit. Die politische Rechte hatte nur auf die Gelegenheit gewartet. Den Boden dafür bereiteten die „Kulturhüter*innen“, die die Aktivist*innen für ihre Aktionen in verschiedenen Museen Europas, das Recht der Auseinandersetzung in dieser Form versagten. So auch die bündnisgrüne Fraktion in Potsdam Anfang November.[2] In einem offenen Brief nach der Kartoffelbreiaktion (bei der das Bild NICHT zu Schaden kam) schrieben die Fraktionsvorsitzenden „jenseits der Diskussion darüber, ob das ethisch vertretbar ist, meinen wir: Es ist nicht die richtige Methode“. „Man teile Ungeduld, Ängste und Verzweiflung der Jugend, lehne aber jede Form von Aggressionen ab.“ Die grünen Fraktionsspitzen engen dabei Demokratie auf Parlamentsarbeit ein, indem sie schreiben „Wir wollen lieber mit demokratischen Mitteln, also mit parlamentarischer Arbeit, die gemeinsamen Ziele erreichen.“ So wird ziviler Ungehorsam als Mittel der politischen Auseinandersetzung negiert. Und dies in einer Partei, die nur durch massenhaften Protest zu dem geworden ist, was sie ist.
Rückblick: 1913 drangen zwei Frauenrechtsaktivistinnen in die Manchester Art Gallery ein. Sie gingen auf ein Dutzend der wertvollsten Kunstwerke los und hatten deren Glasscheiben mit Hämmern zertrümmert. Später zerkratzte die Suffragette Mary Richardson die «Venus vor dem Spiegel». Sie zückte ein Hackmesser und zerkratzte das Kunstwerk. Sie wurde als «Stimmrechtsfrauenzimmer» betitelt und inhaftiert, fand aber zahlreiche Nachahmerinnen. Bei neun Aktionen wurden bis im Juli 1914 in verschiedenen Städten insgesamt vierzehn Bilder angegriffen; in historischen Museen wurden zudem Mumien und Porzellansets ins Visier genommen. Die durch die Aktionen erlangte Aufmerksamkeit mündete letztendlich im Wahlrecht für Frauen.
Rückblick: 1995/1996 werden am jeweiligen Tag X im Wendland tausendfacher Protest sichtbar. Das sogenannte „Streckenkonzept“ lies unterschiedliche Protestformen wirksam werden. Von Liedersingen und Sitzblockaden bis Kranbesetzungen, Schienendemontagen, Traktorblockaden und Straßenuntergrabungen. Massive Polizeigewalt war die Reaktion. Um die bürgerkriegsähnlichen Szenen zukünftig zu vermeiden wurde unter Rot-Grün ein Atomausstiegsbeschluss gefasst. Das Atomgesetz von 2002 hatte zum Ziel, die Nutzung der Atomenergie zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität geordnet zu beenden. Dazu wurden die Laufzeiten der Atomkraftwerke auf eine regelmäßige Gesamtlaufzeit von ca. 32 Jahren begrenzt. Auch Neubauten von Atomkraftwerken waren seitdem nicht mehr erlaubt.
Die angeblich bürgerbewegten Grünen haben vergessen, woher sie kommen. Heute sind sie Wegbereiter rechter Polemik. Wir glauben, die Potsdamer Grünen würden selbst Mahatma Gandhi bei einem Hungerstreik diskreditieren, nur um sich als Parlamentarier*innen und ihre wenig durchdringende Klimapolitik zu rechtfertigen.
Die seit einem Monat andauernde Diskursverschiebung reicht so weit, dass die einigermaßen gesellschaftsfähige Aktionsform der friedlichen Sitzblockade plötzlich mit Terrorismus assoziiert werden. Das ist auch eine Verhöhnung der Opfer von echtem Terrorismus. Was ist eigentlich passiert? Die „Letzte Generation“ hat sich so oft auf Straßen gesetzt, bis sich Autofahrer*innen genervt fühlen. Der UN-Generalsekretär Guterres fand zum Auftakt der COP 27 eindringliche Worte: „Entweder gibt es einen Klimasolidaritätspakt oder einen kollektiven Selbstmordpakt“! Dass diese Worte voraussichtlich wieder reaktionsarm verhallen, das nervt wirklich!
Die Galerie- und Straßenaktionen sind die Reaktion auf die Untätigkeit oder zu geringe Tätigkeit der Politik in Bezug auf Klimaschutz und Biodiversität. Diese Arroganz gegenüber nachkommenden Generationen hier und Menschen, die auf der Südhalbkugel (die wesentlich stärker vom Klimawandel betroffen sind als wir Verursacher*innen in den Industriestaaten) leben – die nervt! Das ist Mobbing gegenüber denen, die nicht an den Entscheidungen für die Zukunft beteiligt werden bzw. deren Zukunft nicht in Entscheidungen von heute einfließt. Mobbing ist seelische Gewalt, bei der jemand die Gefühle eines anderen Menschen verletzt, ihm Angst macht, ihn verhöhnt oder entmutigt (siehe oben). „Der Jemand“ sind die politisch Verantwortlichen. Das ist eine Form von seelischer und struktureller Gewalt, die – trotz Gewaltmonopol – nicht vom Staat ausgehen sollte!
Die gesamte öffentliche Debatte ist geprägt von der Suche nach Schuldigen. Und das sollen nicht mehr diejenigen sein, die das Klima zerstören, sondern vermeintlich fanatische Klimaschützer*innen.
Lasse Thiele vom Konzeptwerk Neue Ökonomie fasst es so zusammen: „Nichts davon wird weggehen, wenn Aktivist*innen sich auf weniger provokante Taktiken beschränken. Dass symbolische Alltagsstörung für sich noch nicht die Klimakrise löst, wissen alle. Die »besorgten« Kritiker*innen bleiben aber effektivere Antworten schuldig. Dass im Umkehrschluss braves Handeln auf fruchtbareren Boden fiele, ist lange widerlegt – nicht zuletzt durch mediale Ignoranz. Bewegungsberatung per Feuilleton oszilliert gerne zwischen wohlmeinenden Floskeln und lächerlichem Oberlehrertum. Letztlich ist die Bitte um »konstruktiven« Protest der Aufruf, sich wieder bequemer ignorierbar zu machen. Die Klimabewegung hätte etwas standhaftere Verbündete in den Medien verdient, die nicht über jedes von rechts hingehaltene Stöckchen springen.“[3]
[3] https://www.nd-aktuell.de/artikel/1168297.letze-generation-diskurspolitik-ohne-fakten.html
Lesetipp: https://konzeptwerk-neue-oekonomie.org/ und Die Wissenschaft – Wissenschaftler rebellion_ (scientistrebellion.com)
Ein Beitrag vom „Büro für politische Angelegenheiten„.