Ausgeschalten, aber nicht ausgestrahlt

Am Wochenende gehen die letzten drei deutschen Atomkraftwerke vom Netz. Ein Feiertag für viele Atomkraftgegner:innen. Zahlreiche Abschaltpartys finden republikweit statt. Auch in Potsdam werden Sektkorken knallen. Auch wenn hier vor Ort die direkte atomare Bedrohung durch den Forschungsreaktor in Wannsee schon seit Dezember 2019 ein Ende hat. Der Kernforschungsreaktor BER II im HMI stellte seinen Betrieb vor über drei Jahren ein. Mit dem Rückbau des verstrahlten Forschungsobjektes soll dieses Jahr begonnen werden.

Die Atomkraftgegner:innen der Region werden sich an diesem Wochenende noch einmal an die Fahrten ins Wendland zu den Tag X-Protesten, an Aktionen am Verladekran in Danneberg, an die massive Polizeigewalt und die Hysterie des Staates sowie an die deutlich leiseren Proteste in Rheinsberg und Greifswald, erinnern. Und sie haben einen guten Grund zu feiern. Die Vernunft hat gesiegt. Nach vielen Jahrzehnten Protest, zeigt der zweite gesetzliche Atomausstiegsversuch in Deutschland nun seine endgültige Wirkung.  

Doch all das darf nicht davon ablenken, dass das Thema Atomkraftnutzung längst nicht zu Ende ist. Von Beginn an war die Kernenergienutzung eine militärisch-industrielle Symbiose. Zivile und militärische Nutzung der Atomenergie lassen sich nicht eindeutig trennen. Atomkraftwerke, Forschungsreaktoren, Anreicherungs- und Wiederaufarbeitungsanlagen sind immer auch ein Weg, an die zum Bau einer Atombombe nötigen Materialien zu gelangen und militärische Atomprogramme zu kaschieren. Atomreaktoren sind zudem die einzige Möglichkeit, das ultragiftige Bombenmaterial Plutonium zu erzeugen. Es entsteht bei der Kernspaltung und kann in einer Wiederaufarbeitungsanlage aus den abgebrannten Brennelementen extrahiert werden.

Noch heute produzieren Atomanlagen hochangereichertes Material. Weit über 10.000 Atomsprengköpfe stehen in der Welt zur Abschreckung herum (mehr als 1/3 davon aktiv). [1] Ca. 100 Atomkraftwerke sind noch in Betrieb und der Atommüll verstrahlt noch viele hunderttausend Jahre die Erde. [2] 

Aufgrund der langen Halbwertszeiten vieler radioaktiver Substanzen fordert die deutsche Gesetzgebung gemäß § 24 Abs. 4 StandAG eine sichere Lagerung über 1 Million Jahre. [3] Verdammt lang hin. Hätten die Neandertaler, welche ca. in der Zeit vor „nur“ 230.000 bis 30.000 Jahren auch im Alpenraum lebten, schon Atomkraftwerke betrieben, würden Söder & Co heute noch auf deren strahlenden Atommüll sitzen.

Die Zeiträume, über die ein Endlager bestehen soll, liegen außerhalb aller dem Menschen zugänglichen Größenordnungen. Sie übertreffen deutlich die bisherige Gattungsgeschichte von Homo sapiens auf unserem Planeten. Die Fachleute der Atomsemiotik tüfteln an dem Problem, ferne Nachkommen vor einem Endlager zu warnen: Menschliche Sprache und Symbolik ändert sich womöglich viel zu schnell, um wirklich dauerhaft und sicher warnen zu können. Es besteht nicht einmal Einigkeit darüber, ob wir ein Endlager vielleicht sogar eher verschleiern sollten. Denn Terroristen könnten sich davon angezogen fühlen. Andererseits lässt sich nicht ausschließen, dass Menschen, die nichts von dem Endlager wissen, ausgerechnet dort Bergbautätigkeiten anstellen und dadurch die Integrität des Deckgesteins beschädigen.

Zum Vergleich: Die ältesten aus Europa bekannten Höhlenmalereien sind rund 65.000 Jahre alt. Und wir können sie nicht eindeutig interpretieren. Wie soll dann ein „Beipackzettel“ für Atommüll aussehen und die nötigsten Informationen bereithalten? Natürlich FDP-gerecht und technologieoffen. Parallel zur Produktion von Atommüll wurde jahrelang nur Müll geredet, was die Nutzung der Atomenergie und die Entsorgung hochradioaktiver Abfälle angeht.

In wenigen Tagen, am 26. April jährt sich der GAU im Atomkraftwerk Tschernobyl (damals Sowjetunion, heute Ukraine). 1986 breitete sich eine radioaktive Wolke über ganz Europa aus. Bis heute können die radioaktiven Spuren, die das Ereignis hier hinterließ, gemessen werden. Am 11. März 2011 folgte Naturkatastrophe in Fukushima, die zur Atomkatastrophe wurde. Doch die Liste von Atomunfällen ist viel länger (1952 Ottawa CA, 1973 Sellafield GB, 1979 Harrisburg USA …). Von Beginn an war die Atomenergienutzung eine unsichere Angelegenheit. Mehr dazu hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Unfällen_in_kerntechnischen_Anlagen

Umso gravierender ist die Aussage von Minister Habeck einzustufen, der vor wenigen Tage meinte, es sei „in Ordnung“ dass die Ukraine weiterhin an Atomkraft festhalten werden. „Solange die Sicherheit gewährleistet sei.“ Es gab noch nie Sicherheit und schon gar nicht in einem Kriegsgebiet. Ein Atomkraftwerk ist ein risikoreiches Angriffsziel für Terroranschläge: Mit seinem radioaktiven Inventar birgt es wie kaum ein anderes Objekt das Potenzial, Millionen Menschen zu töten und ganze Regionen unbewohnbar zu machen. Nicht nur in der Ukraine. Scheinbar hat Habeck den 11.September 2001 schon verdrängt. Wenn Habeck sich schon nicht für seine Äußerung schämt, so sollten es jedoch die Bündnisgrünen tun. Und dies bundesweit.

Dieses Wochenende, wenn die gut begründete Abschaltung der letzten drei AKWs in Deutschland vollzogen wird, wäre ein guter Anlass dafür.    

Quellen:

[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Atommacht

[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Kernkraftwerke

[3] StandAG – Gesetz zur Suche und Auswahl eines Standortes für ein Endlager für hochradioaktive Abfälle. In: gesetze-im-internet.de. 5. Mai 2017, zuletzt abgerufen im April 2022

An dieser Stelle möchten wir mit zwei weiteren Mythen der Atomlobby aufräumen:

Angeblich stellt der Atomstrom eine „preiswerte“ Stromerzeugung dar. Warum hat dann Deutschland in den letzten 50 Atomjahren die höchsten Strompreise in Europa gehabt? Richtig ist, Atomkraft ist für die Steuerzahler:innen ein Milliardengrab. Nur durch den subventionierten Bau der Atomkraftwerke und die Freistellung von zahlreichen Lasten und zusätzlichen Steuervergünstigungen, ist der betriebswirtschaftliche Erzeugerpreis sehr gering. Allerdings erhöht dies im „Markt“ (durch das Merit-Order-Prinzip) nur die Gewinne der AKW-Betreiber:innen, senkt aber nicht die Strompreise.

Atomstrom leistet angeblich einen Beitrag zum Klimaschutz. Das stimmt nur dann, wenn der Strom sonst durch konventionelle Energie erzeugt wird. In der Regel verhindern Atomkraftwerke durch ihre Nicht-Regelbarkeit seit Langem die Einbindung der Erneuerbaren Energie und die Systemumstellung bei der Energieversorgung auf die fluktuierende Einspeisung und Residuallast-Deckung. Ebenso verhindern die gigantischen AKWs dezentrale Lösungen für die klimaschonende oder klimaneutrale Wärme- und Stromversorgung.

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