Herzlich willkommen, neue Mieter*innen!
Die Wichgraf 11 wird selbstständig

Das große Mietshaus in der Wichgrafstraße in Babelsberg steht schon länger im Mittelpunkt der stadtpolitischen Debatten. Hier zeigt sich symbolisch, wie wichtig es ist, wenn sich Mieterinnen selbst organisieren und sich solidarisch zueinander verhalten. Schon früh hatten sie ihren Vermieter gefragt, ob sie ihr Haus nicht selbst kaufen und verwalten könnten. Sie haben bei der Stadt ein Vorkaufsrecht eingefordert und die Rolle des Vermieters öffentlich gemacht. Dessen Vorgehen steht eben aber auch symbolisch dafür, wie selbst kleine Immobilienbesitzerinnen von den Marktentwicklungen profitieren wollen und möglichst viel Profit aus ihrem Haus herausholen wollen. Nachdem ein Verkauf – wahrscheinlich zu spekulativen Zwecken – nicht klappte, hat er insgesamt 6 Wohnungen frei ziehen lassen, sie einfach und häppchenweise modernisiert und – schließlich leer stehen lassen. Nun sind sie wieder vermietet – wie uns die Hausgemeinschaft berichtet:

„Lange haben wir gewartet auf unsere neuen Nachbarinnen – genau genommen seit 2018, als die erste der insgesamt sechs Wohnungen leergezogen und nicht neu vermietet wurde. Nach und nach leerte sich das Haus. Bauarbeiten, inserierte und wieder entfernte Wohnungsangebote sowie über Monate andauernde Besichtigungstermine ließen die Hoffnung schwinden. Doch dann ging es Schlag auf Schlag: Innerhalb weniger Wochen wurden die leerstehenden Wohnungen vermietet und die neuen Nachbarinnen kamen an.

Die Hausgemeinschaft ist komplett!

Wir freuen uns wirklich sehr, dass der Leerstand von Wohnraum in Zeiten von massiver Wohnungsnot in unserer Stadt zumindest in der Wichgrafstraße 11 nun endlich beendet ist. Aus 30 % Leerstand wurden innerhalb weniger Wochen 30 % neue Nachbarinnen und neues Leben. Erste Kontakte wurden geknüpft, erste Feste gemeinsam gefeiert.

Leerstand wurde nicht verhindert!

Ob allerdings die Satzung der Landeshauptstadt Potsdam über das Verbot der Zweckentfremdung von Wohnraum, wozu auch der Leerstand von Wohnraum gehört, zur Beendigung des Leerstandes beigetragen hat, darf bezweifelt werden. Seit Inkrafttreten der Satzung und der Anzeige des Missstandes bei der Stadt, standen die Wohnungen noch über zwei Jahre leer. Ähnliches scheint man auch über den Rest Potsdams sagen zu können: Uns ist kein Fall bekannt, in dem die Satzung tatsächlich Zweckentfremdung von Wohnraum wirksam verhindert hat.

Freelancer only!

Doch nicht nur die Dauer des Leerstandes, sondern auch das Bewerbungsverfahren für die Wohnungen war fraglich. Die Inserate richteten sich ausschließlich an freiberuflich tätige Personen und die Vermietung erfolgte ausschließlich „teilgewerblich“. Somit wurden ganze Personengruppen vom Bewerbungsverfahren von vorneherein ausgeschlossen. Auf Nachfragen von Mieterinnen bei der Maklerfirma wurde erklärt, dass es sich bei Freelancern um ruhige Leute handeln würde, die die meiste Zeit des Tages zu Hause verbringen würden. Das sei gut für das Hausklima. In einem Fall wurde es sogar geschichtsträchtig: Das Führen von kleinen Geschäften und Gewerben sei Tradition im Weberviertel, deshalb auch die teilgewerbliche Vermietung.
Teilgewerblich bedeutet in diesem Fall, dass ein Teil der Wohnung laut Mietvertrag gewerblich genutzt werden darf. Die Miete für diesen Teil der Wohnung orientiert sich deshalb nicht am Mietspiegel und somit kommen Gesamtmieten zu Stande, die teilweise deutlich über dem Mietspiegel liegen – mit durchschnittlichen Kaltmieten von teils 14 Euro m² und Mietsteigerungen der Nettokaltmiete von teils über 40 % im Vergleich zur Vormiete.
Die Satzung über das Verbot der Zweckentfremdung von Wohnraum verhindert diese Praxis nicht, denn die Zweckentfremdung von Wohnraum liegt laut Satzung erst bei einer Gewerbefläche > 50 % vor.

Keine wirksamen Instrumente zum Schutz von Mieterinnen!

Die Wichgrafstraße 11 ist nur ein Beispiel dafür, wie kreativ Vermieterinnen bestehende Regelungen zum Schutz von Mieter*innen in Potsdam umgehen können. Nicht nur die Satzung über das Verbot der Zweckentfremdung von Wohnraum sollte auf ihre Wirksamkeit hin überprüft und angepasst werden. Potsdam braucht endlich ein tragfähiges Konzept, wie die wohnungspolitischen Herausforderungen angegangen werden können. Andernfalls wird die Suche nach bezahlbarem Wohnraum für viele ein Alptraum bleiben.“


Wir haben uns dieses Geschäftsmodell – „Teilgewerbliche Nutzung von Wohnraum“ mal näher angeschaut.
Bereits 2020 hatte der Berliner Mieterverein festgestellt: „Wenn es darum geht, die Mietpreisbremse zu umgehen, sind Vermieter erfinderisch. Neueste Masche: Sie versuchen, Wohnungsmietern teilgewerbliche Mietverträge unterzuschieben.“
Im Grunde funktioniert dieses System so.
Mietwohnungen werden bei Neuvermietung nur noch als „Wohnungen mit teilgewerblicher Nutzung“ angeboten. Um der möglichen Zweckentfremdung zu entgehen, bleibt die Größe der Wohnung mit teilgewerbliche Nutzung unter 50 %. Gleichzeitig können für diese Räume Phantasiemieten genommen werden, da im Gewerbemietrecht kaum Regeln gelten. Eigentlich muss der Zuschlag im Mietvertrag extra ausgewiesen werden, allerdings ist dies in der Praxis eher selten der Fall – wie Rechtsanwälte bestätigen: „Sofern nicht im Mietvertrag ein bestimmter Betrag als Teilgewerbezuschlag ausgewiesen ist, sondern ein einheitlicher Mietbetrag für beide Nutzungsarten, steht dem Mieter auch nicht mehr die Möglichkeit der Ermittlung der ortsüblichen Miete z.B. über den Mietspiegel offen. Der Mietspiegel weist keine Werte von Wohnungen mit teilgewerblicher Nutzung auf.“ http://www.rechtsanwalt-hennings.de/mietrecht-fachanwalt-berlin/19-rund-um-den-mietvertrag/97-teilgewerbliche-nutzung-von-wohnraum
Nicht selten werden Zuschläge von bis zu 50 % genommen. Für diese gelten weder der Mietspiegel, noch die Mietpreisbremse. Und nicht zuletzt ist auch der Kündigungsschutz wesentlich geringer, als für eine normale Mietwohnung.
Die spannende Frage ist also, wie kontrolliert, reguliert und begrenzt die Stadt Potsdam in Zukunft solche Geschäftsmodelle? Im Sinne des Erhalts bezahlbaren Wohnraums ist diese Praxis wie in der Wichgrafstraße 11 sicher nicht.

Siehe auch:
https://wichgraf11.de/herzlich-willkommen-neue-mieterinnen

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