Am 8. Dezember 1990 traf sich in Potsdam das „Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder“. Erklärtes Ziel war es, einen Verfassungsentwurf für das vereinigte Deutschland „als wichtigstem Element des Zusammenwachsens“ vorzulegen.
Der Kongress in Potsdam war einer von insgesamt drei arbeitsintensiven Kongressen. Zwei davon fanden an zentralen Orten der deutschen Verfassungsgeschichte statt: am 16. September 1990 unter dem Titel „Verfassung mit Volksentscheid“ in Weimar, und am 18. Mai 1991 in der Paulskirche in Frankfurt am Main, auf den Tag genau 143 Jahre, nachdem sich dort das erste deutsche Nationalparlament konstituiert hatte.
Zu dem Kuratorium gehörten fast 200 Menschen; unter anderem Wolf Biermann, Otto Schily, Marianne Birthler, Fritz Pleitgen, Bärbel Bohley, Tatjana Böhm, Lea Rosh, Jürgen Habermas.
Die Forderungen des Kuratoriums nahmen viele Punkte des Entwurfs der AG „Neue Verfassung“ auf: die Trennung von Staat und Kirche, das Recht auf Wohnung und Arbeit, Umweltschutz als Staatsziel, die Stärkung des Föderalismus und nicht zuletzt plebiszitäre Elemente und die Bestätigung der neuen Verfassung durch einen Volksentscheid.
Die AG „Neue Verfassung“ war ein „Kind“ des Rundes Tisches aus der revolutionären Zeit 1989/1990. Sie hatte eine neue Verfassung für die DDR verfasst. Hier der Link zum Ergebnis: http://www.documentarchiv.de/ddr/1990/ddr-verfassungsentwurf_runder-tisch.html
Der Entwurf war auch als Grundlage für eine neue gesamtdeutsche Verfassung gedacht. Daraus wurde nichts. Vielleicht lag es daran, dass es um Anschluss und nicht um Vereinigung ging. Oder es lag an den progressiven und partizipativen Elementen des Entwurfs. Der Entwurf, der am 5. April 1990 der Öffentlichkeit präsentiert wurde, umfasste unter anderem soziale Grundrechte wie das Recht auf Arbeit, Wohnung, Bildung und soziale Sicherheit, das Streikrecht und ein Aussperrungsverbot. Plebiszitäre Elemente wie eine Gesetzgebung durch Volksentscheid waren vorgesehen.
Heute feiert die Bundesrepublik 75 Jahre Grundgesetz. 75 Jahre Provisorium. Warum? Wieso haben es die Regierungen in den letzten 30 Jahren nicht geschafft oder gewollt, eine neue Verfassung zu etablieren, um so das Verständnis für Demokratie, Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit auch zu schärfen? Auch „moderne“ Elemente der Mitbestimmung und Entscheidungsfindung hätte voraussichtlich mehr Erfolg bezüglich Debattenkultur und Demokratieverständnis gebracht, als ein dreitägiges Straßenfest in Berlin mit Werbeständen der Länder, Kugelschreibern und Luftballons.
Wäre der 75. Jahrestag des Grundgesetzes, der auch als der 75. Jahrestag der Bundesrepublik zählt, nicht der geeignete Zeitpunkt gewesen, wenigsten den provisorischen Charakter des Grundgesetzes aufzuheben? Der Artikel 146 kann historisch erklärt und begründet werden. Sachlich begründen, weshalb wir ihn heute noch brauchen, kann ihn wohl niemand. Oder wollen wir Deutschland noch erweitern? Ist die Vereinigung territorial noch nicht abgeschlossen? So super der Artikel 1 des Grundgesetzes ist, so überflüssig ist der Artikel 146. Er lautet: „Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“ Wenn ein Artikel dieses Grundgesetzes sinnfrei ist, welchen Wert haben dann die anderen 145 Artikel des GG? Wie ernst meinen wir die Menschenwürde in ersten Artikel des Grundgesetzes, wenn wir den Auftrag des letzten Artikels nicht ernst nehmen?
Wenn wir schon keine „freie Entscheidung“ zur gesamten Verfassung haben, so sollte doch der Art 146 zeitnah durch eine Volksabstimmung abgeschafft werden und das Provisorium Grundgesetz somit zu einer „echten“ Verfassung werden.
Natürlich kann einer solcher Akt auch genutzt werden, um die Verfassung zu modernisieren und zu erweitern. Dabei sollte auch über die Bürde der im Grundgesetz festgeschriebenen Kleinstaaterei (genannt Föderalismus) nachgedacht werden. Globale oder komplexe Themen wie Klimaschutz, soziale Gerechtigkeit, ein nachhaltiges Wirtschaftssystem oder Bildung bedürfen nicht 16 verschiedenen Lösungsansätzen, die dann noch mit jeder Legislatur neu ausgedacht werden. Demokratie und staatliche Verfasstheit sind keine starren Gebilde, sondern müssen gelebt und weiterentwickelt werden. Mehr Teilhabe bedeutet auch mehr Demokratie.
Es wäre doch zu schön gewesen, wenn 1990 von Potsdam ein Impuls für eine neue Verfassung Deutschlands, eine neue Nationalhymne und ein neues Staatssymbol ausgegangen wäre und Potsdam nicht nur mit dem Tag von Potsdam und das Potsdamer Abkommen in die Verfassungsgeschichte eingegangen wäre.
Eine Leseempfehlung zum Thema Verfassung:
Der Artikel 146 gehört aus dem Grundgesetz gestrichen.
Bei einer lebhaften Diskussion um 75 Jahre Deutschland ging es auch um diesen Artikel.
Man war sich darüber einig, dass er überflüssig ist.
Außer für Revanchisten, die sich mit den international anerkannten deutschen Nachkriegsgrenzen nach 1945 bis heute nicht abgefunden haben.