Der Pfarrer und Friedensaktivist Paul Oestreicher hatte das Nagelkreuz von Coventry vor 20 Jahren nach Potsdam gebracht. Nun forderte er, das Kreuz vom umstrittenen Feldaltar der Turmkapelle zu entfernen.
Am Ostermontag wurde der alte Feldaltar der Garnisonkirche in die neue Kapelle des Turms der Garnisonkirche geschleppt und auf ihm thronte symbolisch das Nagelkreuz. Dass der Altartisch umstritten ist, ist nicht neu. Neu ist, das Paul Oestreicher sich kritisch über die Nutzung des Nagelkreuzes äußert. Dass er das Wiederaufbauprojekt kritisch sieht, ist nicht neu.
Der inzwischen 92-jährige in Neuseeland lebende Pfarrer und Friedensaktivist Oestreicher hatte das Kreuz aus der Kathedrale von Coventry vor 20 Jahren nach Potsdam gebracht und bereut dies aktuell. Sein persönlicher Zwiespalt ist in jeder seiner Zeilen spürbar. Einerseits schreibt er zu Eröffnung der Kapelle ein Grußwort, gleichzeitig gibt er gegenüber den Kritikern des Wiederaufbaus eine Erklärung ab. Beide Briefe liegen uns vor.
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Anlässlich der Kapelleneinweihung und der facettenreichen Gegenveranstaltung am Ostermontag hatte der Religionswissenschaftler Horst Junginger berichtet, Oestreicher wolle nicht, dass das Nagelkreuz auf dem Feldaltar stehe. Der alternative Lernort Garnisonkirche hatten die Geschichte des als „Blutaltar“ bezeichneten und als Feldaltar genutzten barocken Altartisches zuvor erläutert. An und mit dem Altar wurden unter anderem preußische Militärfahnen geweiht und Soldaten in den Krieg geschickt. Mehr dazu in der Broschüre „Schwarzbuch Garnisonkirche Potsdam“ (https://lernort-garnisonkirche.de/wp-content/uploads/2024/03/Gk_Broschuere_web_2.pdf).
Paul Oestreicher nahm diese Informationen zum Anlass, erneut die Arbeit der „Garnisonkirche“ zu kritisieren. Das Konzept einer Friedenskirche sei gescheitert. Aber genau darauf baut das ganze Getue der Protagonisten der Stiftung Garnisonkirche auf. Sie als Überbringer der Versöhnungsbotschaft. Und dies Mitten im Herzen der alten Militärstadt. Umgegeben von den (neuen) Mauern der alte Hof- und Militärkirche. Mit den Füßen in Richtung Frieden drehen sie sich im Kreis der immer neuen Sinnsuche und Distanzierungen.
Vergessen bei all dem wird, dass vor vielen Jahren zugesichert wurde, dass das Nagelkreuz auch als Turmspitze zur Anwendung kommt, und nicht die goldene Wetterfahne, die aktuell hinter Gittern steht. Dort sollte sie auch bleiben, denn sie ist natürlich auch als Kriegserklärung gegen Frankreich zu verstehen. Die Debatte hatten wir schon vielfach. Das kann (will) der junge neue Pfarrer Kingreen nicht wissen. Die Stiftung hat trotz der Zusage, dass mit dem Nagelkreuz als Turmspitze, ein Bruch mit dem Original vollzogen wird, die goldener Wetterfahne fertigen lassen und wiederum deren Spendern versprochen, dass natürlich dieses „goldene Kalb“ den Turm schmücken wird. Eine der vielen Lügen und falschen Versprechen gegenüber Dritten. Kein Wunder, dass sich nun auch Paul Oestreicher hinters Licht geführt fühlt.
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Diese Erkenntnis ist nicht neu. Bereits am 13.01.2015 zog sich Oestreicher enttäuscht aus der Diskussion um das Projekt Garnisonkirche zurück (https://www.tagesspiegel.de/potsdam/landeshauptstadt/abschied-mit-kritischer-bilanz-7239883.html)
Seine kritische Bilanz zur Arbeit der Garnisonkirchenstiftung und der Fördergesellschaft lautete: Von „der Absicht, etwas völlig Neues zu gestalten“, sei in den vergangenen zehn Jahren „nur wenig zu spüren“ gewesen. Zwar gehe es nicht mehr um eine „Militärkirche“, dafür nun aber in erster Linie um eine „kulturelle städtische Restauration“, kritisiert Oestreicher: „Nur noch ganz am Rande schienen Frieden und Versöhnung im Spiel zu sein.“
Erst durch die Projektgegner sei „frischer Wind in die Segel“ gekommen, schreibt Oestreicher: „Die Gegner haben nicht umsonst agiert.“ Die aktuelle Debatte werde zum Segen werden, „aber nur, wenn sie respektvoll geführt wird“. Er selbst habe hohen Respekt für die Gegner, ihre Vorbehalte seien berechtigt. „Wäre mein Sitz im Leben ein anderer, könnte ich wahrscheinlich, ohne mir untreu zu sein, zur Opposition gehören.“
Nun distanziert sich Paul Oestreicher öffentlich von der Platzierung eines Nagelkreuzes auf dem Feldaltar der Garnisonkirche.
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Oestreicher ist Jahrgang 1931 und Sohn eines Kinderarztes jüdischen Glaubens. 1960 erhält er die Diakons- und Priesterweihe in der Anglikanischen Kirche. Danach wird er Kaplan in einer Arbeitergemeinde im Osten Londons. 1961 gründet er von Amnesty International mit und wird in der Zeit 1975-79 Vorsitzender der britischen Sektion. In den Jahren 1985-97 ist er Domkapitular und Leiter des Internationalen Versöhnungszentrums in Coventry. Nach ihrer Zerstörung am 14.11.1940 wurde die Kathedrale nicht wieder aufgebaut. Ein Neubau ergänzt die Ruine. Paul Oestreicher schließt sich der Nagelkreuzbewegung an und bringt 2004 eine Nachbildung des Nagelkreuzes nach Potsdam. Zehn Jahre später, am symbolträchtigen 20. Juli 2014 (Tag eines Attentates auf Hitler; ein Militärputsch) wurde der Kapelle durch den Dean of Coventry John Witcombe und den Vorsitzenden der Deutschen Nagelkreuzgemeinschaft Oliver Schuegraf unter Mitwirkung von Paul Oestreicher und Nikolaus Schneider (EKD-Ratsvorsitzender) der Name Nagelkreuzkapelle verliehen.“
Oestreicher erhält mehrere Ehrendoktorwürden, ist seit 1995 Ehrenbürger Meiningens, bekam das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse und wurde 2022 von der englischen Königin zum Officer of the Order of the British Empire ernannt.
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Wir dokumentieren nachstehend die Erklärung von Paul Oestreicher, die er in Bezug auf die Nagelkreuzkapelle in Potsdam abgegeben hat.
Gleichzeitig danken wir Paul Oestreicher für sein Ringen und seine Offenheit, sowie seinem Bekenntnis von 2015, der Opposition des Wiederaufbauprojektes anzugehören (s.oben).
„DIE P0TSDAMER NAGELKREUZKAPELLE
EINE PERSÖNLICHE GEWISSENSENTSCHEIDUNG am 2. April 2024
Nach langem innerlichen Ringen hat mein christlicher Pazifismus über meine Kompromissbereitschaft gesiegt, über die Bereitschaft, versöhnend mit denen zusammen zu arbeiten, die zwar friedensorientiert sind, aber die Worte Frieden schaffen ohne Waffen sich nicht zu eigen gemacht haben. Im langjährigen Konflikt um die Potsdamer Garnisonkirche stand ich als Überbringer des Nagelkreuzes der Kathedrale von Coventry immer zwischen den Fronten. Das Nagelkreuz, Symbol der Versöhnung, hätte die Gegner:innen und die Befürworter:innen des Wiederaufbaus der Garnisonkirche an einen Tisch bringen sollen. Das ist leider nicht geschehen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gab sich die noch zum Teil bestehende alte Kirchengemeinde den Namen Heilig Kreuz Gemeinde. Dann, nach dem Ende der DDR, ging man meines Erachtens leider auf den Namen Garnisonkirche zurück, wo sich nun im wiederaufgebauten Turm die Nagelkreuzkapelle befindet. Auf dem Altar der nun feierlich gewidmeten Kapelle steht das Nagelkreuz, aber auf was für einem Altar? Der alte Feldaltar, an dem die Truppen des Kaisers und des Führers den Segen Gottes erhielten, bevor sie während den zwei Weltkriegen in die Schlacht zogen. Das zu bejahen, hat meine Kompromissbereitschaft überfordert.
Es ist meine persönliche Gewissensentscheidung, mich mit den Militärdienstverweigern – vor allem in der ehemaligen DDR – Schulter an Schulter zu stellen. Schon als junger Mensch in meiner neuseeländischen Heimat war ich Militärdiernstverweigerer, schrieb daher als Masters-Dissertation die Geschichte der Verweigerer Neuseelands im Zweiten Weltkrieg. Mein Vorbild: der seelig gesprochene Franz Jägerstätter, der als frommer Christ zum Dienst in Hitlers Wehrmacht Nein sagte und deswegen im Zuchthaus Brandenburg enthauptet wurde. Ihm und seinesgleichen schulde ich meine Treue.
Beide Seelsorger an der Potsdamer Nagelkreuzgemeinde, erst Cornelia Radeke-Ernst und jetzt Jan Kingreen, Friedensbeauftragter der Landeskirche, hatten und haben für ihre Friedensarbeit nach wie vor meine Achtung und Unterstützung. Ihr Tun des Guten stelle ich nicht in Frage. Meine Entscheidung soll ihr Wirken in keiner Weise belasten.
Das Nagelkreuz Coventrys wird in Potsdam bleiben als Teil der von Oliver Schuegraf geleiteten deutschen Nagelkreuzgemeinschaft, die ich einst im neuvereinten Deutschland ins Leben rief. Die Leitung der Kathedrale wird dahinter stehen, unbelastet von meiner persönlichen Entscheidung. Die Fähigkeit, mit menschlichen Widersprüchen zu leben, gehört unweigerlich zur Nachfolge Christi. Gottlob bleibt die letzte Wahrheit in der Obhut des Heiligen Geistes.“
Wir dokumentieren nachstehend den Entwurf des Grußwortes von Paul Oestreicher, welches er anlässlich der Weihe der Nagelkreuzkapelle am Ostermontag geschrieben hat. Der Text wurde den ca. 100 Teilnehmer:innen des Gottesdienstes auch ausgereicht. Verlesen wurde das Grußwort nicht.
„WEIHE DER NAGELKREUZKAPELLE IN POTSDAM, Ostern 2024
LIEBE FESTGEMEINDE
Dieses Grußwort erinnert mich an DDR-Zeiten, als ich und Theologen aus dem Westen nicht predigen durften. Grußworte waren jedoch erlaubt. Das wurde zu einem nützlichen Weg, die Zensur zu unterwandern und das Notwendige zu sagen.
Heute im Auftrag der Kathedrale von Coventry sprechend, muss ich an den Ursprung des Nagelkreuzes erinnern. Drei Nägel aus der Ruine der von der Luftwaffe zerstörten Kathedrale, zum Kreuz geschmiedet, wurden zum Symbol der Vergebung und der Versöhnung. Am Weihnachtstag 1940, erst sechs Wochen nach dem Luftangriff, erklärte Domprobst Howard aus der Ruine, entgegen der Volksmeinung: „Wir Christen sagen Nein zur Vergeltung, und Ja zur Vergebung. Nach diesem Krieg wollen wir gemeinsam mit unseren heutigen Feinden eine freundlichere, christlichere Welt bauen.“ Diese Worte bilden die Grundlage dieser Nagelkreuzkapelle.
Ich brachte das Nagelkreuz nach Potsdam und sorgte dafür, dass bei meiner Predigt sowohl die Befürworter als auch die Gegner des Wiederaufbaus dabei waren. Ich zögerte nicht, den langen Streit, der folgte, kritisch zu begleiten. Auf beiden Seiten hatte ich enge Freunde und Freundinnen.
Heute bin ich dankbar, dass wir so weit gekommen sind, dass der Konflikt aus meiner Sicht sinnlos geworden ist. Sinnlos war er zuvor aber nicht. Mit Hilfe der Stadt Potsdam und ganz besonders unseres Freundes Manfred Stolpe kommt es nun zu einem sinnvollen Kompromiss, dem Versöhnung folgen müsste. Der Wiederaufbau des Turmes und damit dieser Kapelle als Zentrale der Friedensverpflichtung der Landeskirche ist eine zweifache Antwort auf die Vergangenheit, einmal eine Antwort auf den Terror des Luftkriegs im Zweiten Weltkrieg und zugleich eine Antwort auf den Hass Walter Ulbrichts auf den christlichen Glauben. Andererseits ist der Beschluss, die gesamte alte Garnisonkirche nicht wieder entstehen zu lassen eine doppelte Antwort: auf den Militarismus allgemein und auf den damals vermeintlichen Sieg Adolf Hitlers. Beide Seiten im Streit um die Garnisonkirche haben sowohl verloren als auch gewonnen. Die Schirmherrschaft des Bundespräsidenten und die Mittel aus der öffentlichen Hand geben diesem Unternehmen eine Bedeutung für ganz Deutschland.
Die Aufgabe, dem Frieden zu dienen, ist dringender als je. Die von Probst Howard ersehnte freundlichere Welt liegt noch in weiter Ferne. Wir Christen sind uns noch nicht einmal darüber einig, was dem Frieden dient. Genau das sagte Jesus der heiligen Stadt Jerusalem. Wir sind uns nicht einmal darüber einig, ob die Ungerechtigkeiten unserer Welt durch Waffengewalt und im äußersten Fall durch Atomwaffen besiegt werden können. Wir Christen sind aus der Sicht von anderen nicht unbedingt die Heilsbringenden.
Möge das, was diese Kapelle darstellt, mögen wir gemeinsam mit vielen anderen aktiv und demütig bleiben auf der Suche nach einem glaubhaften, guten Weg zum Frieden. Wenigstens das schulden Christen unserem Land, Europa und der Welt.“
An dieser Stelle danken wir dem Pazifisten Paul Oestreicher für sein jahrzehntelanges Engagement, auch wenn wir seine Aussagen nicht immer teilen. Aber gerade in Zeiten, in denen deutsche Minister Kriegstüchtigkeit fordern und neue Waffenfabriken einweihen, sind Besinnung auf menschliche Werte und Reflektion des eigenen Handels besonders wichtig.
Besinnung täte Vielen gut. Auch denen, die meinen, wir müssen die Orte der Täter und des Schreckens wieder aufbauen, um Geschichte erklären zu können. Es gibt genügend real existierende Anknüpfungspunkte für die geschichtliche Aufarbeitung. Auch in dieser Stadt. Es gibt meist nicht den Willen dazu. Das Wort Versöhnung wird noch viel zu oft als Pseudonym für Verdrängung benutzt. Die Online-Ausstellung der Stiftung Garnisonkirche ist ein solches Beispiel (s. https://potsdam-stadtfueralle.de/2023/12/06/sehnsuchtsort-garnisonkirche/). Ebenso dienen Nachbauten meist nicht des Neuanfangs, sondern der Verklärung des Gestern.
Echte Neuanfänge brauchen keine historisierenden Fassaden und Christen brauchen keine Garnisonkirche! Und die Stadt Potsdam braucht auch keinen aufsteigenden schwarzen Preußen-Adler als „Stadtkrone“.
Carsten Linke, Verein zur Förderung antimilitaristischer Traditionen in der Stadt Potsdam e.V.
P.S. Ein Freund wies mich darauf hin, dass es ein fatales Zeichen gegenüber Coventry ist, wenn die Garnisonkirche oder ihr Turm wieder aufgebaut wird. In der Konsequenz würde der Wiederaufbau der GK die deutsche Niederlage nachträglich in einen Sieg verwandeln: Unsere neue „Friedensgarnisonkirche“ steht, die alte Kathedrale in Coventry ist dagegen zerstört. Die Opfer von damals erhalten die Ruine als Mahnmal (und wagen mit dem Neubau einer Kathedrale einen Neuanfang) während die Täter die Vergangenheit mit Rekonstruktionen reproduzieren und dies als Akt von nationaler Bedeutung bezeichnen.
„Kriegserklärung gegen Frankreich“??? Das ist doch unhistorischer Quatsch. Die Gegner der Garnisonkirche sollten sich wenigstens mal ein bisschen mit der Geschichte des Auftragsgebers dieser Kirche befassen. Friedrich Wilhelm I (der „Soldatenkönig“ – sic!) war alles andere als ein Militarist. Er war ein entschiedener Gegner jeden Angriffskriegs und hat auch selber nie einen solchen geführt!