Für „die Weltpolitik“ sei der Landtag nicht zuständig. So die Behauptung, die in den letzten Tagen und Wochen von denen kommen, die die Themen Krieg und Militarisierung der Gesellschaft aus der Debatte fernhalten wollen. Stimmt das? Geht die „Ostländer“ das nichts an, wann und wo US-Raketen in Deutschland stationiert werden und wie der Russland-Ukraine-Konflikt beendet werden kann?
Zur Beantwortung ein Blick in den Zwei-plus-Vier-Vertrag sowie in die Versprechen und Ausreden der 90er Jahre, die bis heute nachwirken.
In wenigen Tagen wird der Landtag des Landes Brandenburg gewählt. In der Landeshauptstadt wohnt der Bundeskanzler Scholz und die Außenministerin Baerbock. Sie unterstützen die Landtagswahlkämpfe ihrer Parteien (oder auch nicht). Es war der Kanzler selbst, der mitten im Sommerloch an falscher Stelle mal Stärke zeigen wollte und von der Stationierung von US-Raketen sprach. Zum Teil zur Überraschung seiner SPD-Genoss*innen. Und Annalena Baerbock bzw. die Grünen stehen scheinbar seit 1999 für das Motto „Frieden schaffen mit Waffen – wenn es sein muss, mit immer mehr Waffen.“
Warum soll dann vor einer Landtagswahl nicht über diese Themen diskutiert werden und diese gegebenenfalls auch in die Wahlentscheidung einbezogen werden? Selbst der Wahl-O-Mat der Landeszentrale für politische Bildung stellt die Frage (37) „Soll Brandenburg sich dafür einsetzen, dass Deutschland weiterhin Waffen an die Ukraine liefert?“ Das ist Weltpolitik!
>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>
Vor 34 Jahren, am 12. September 1990 wurde in Moskau der Zwei-plus-Vier-Vertrag zwischen den beiden deutschen Staaten und den vier Siegermächten des Zweiten Weltkrieges (USA, UdSSR, Frankreich, Großbritannien) abgeschlossen. Er stellte die endgültige innere und äußere Souveränität des vereinten Deutschlands her. Im vollständigen Wortlaut hieß er: „Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“, er wurde daher auch kurz als „Regelungsvertrag“ bezeichnet.*1 Der Begriff Friedensvertrag wurde absichtlich nicht verwendet. Dazu später mehr.
Im Einzelnen wurde im Zwei-plus-Vier-Vertrag festgelegt:
- die endgültigen mitteleuropäischen Grenzen und damit das Staatsgebiet des vereinten Deutschlands mit der Erklärung, dass Deutschland keine Gebietsansprüche an andere Staaten stellt;
- die Personalstärke der deutschen Streitkräfte auf 370.000 Personen mit der Erklärung, dass Deutschland auf die Herstellung, die Verfügung über und den Besitz von ABC-Waffen sowie auf das Führen von Angriffskriegen verzichtet;
- eine Vereinbarung über den Abzug der sowjetischen Truppen aus Ostdeutschland bis 1994 und das Recht, Bündnissen anzugehören.
Die Präambel ist bis heute lesenswert. https://www.bpb.de/themen/deutsche-einheit/zwei-plus-vier-vertrag/44112/praeambel/ Da geht es darum:
– dass dies eine feste Grundlagen für den Aufbau einer gerechten und dauerhaften Friedensordnung in Europa ist,
– dass die Sicherheitsinteressen eines jeden zu berücksichtigen sind,
– dass alle von der Notwendigkeit, Gegensätze endgültig zu überwinden und die Zusammenarbeit in Europa fortzuentwickeln, überzeugt sind.
Es wird deutlich, dass sich mehrere Vertragsparteien in den letzten 30 Jahren nicht darangehalten haben, bzw. einen Vertragspartner bewusst getäuscht haben. [1] (s.a. Falsche Versprechen)
Von besonderem Interesse in Bezug auf die aktuelle Debatte, ob bei Landtagswahlkämpfen die Themen wie Krieg und Frieden oder die geplante Stationierung von atomaren Langstreckenraketen überhaupt eine Rolle spielen sollten oder „dürfen“, ist der Artikel 5 Abs. 3 des Zwei-plus-Vier-Vertrags:
„(3) Nach dem Abschluss des Abzugs der sowjetischen Streitkräfte vom Gebiet der heutigen Deutschen Demokratischen Republik und Berlins können in diesem Teil Deutschlands auch deutsche Streitkräfteverbände stationiert werden, die in gleicher Weise militärischen Bündnisstrukturen zugeordnet sind wie diejenigen auf dem übrigen deutschen Hoheitsgebiet, allerdings ohne Kernwaffenträger. Darunter fallen nicht konventionelle Waffensysteme, die neben konventioneller andere Einsatzfähigkeiten haben können, die jedoch in diesem Teil Deutschlands für eine konventionelle Rolle ausgerüstet und nur dafür vorgesehen sind. Ausländische Streitkräfte und Atomwaffen oder deren Träger werden in diesem Teil Deutschlands weder stationiert noch dorthin verlegt.“
Letztendlich ist es eine Pflicht der ostdeutschen Bundesländer darauf zu achten, dass die Intentionen der friedlichen Revolution und der letzten DDR-Regierung beachtet werden. „Niemand hat die Absicht im Osten Raketen zu stationieren“ lautet oft der Einwand. Das heißt, im Westen Deutschlands darf dies geschehen. Eine gesamtdeutsche Frage lautet aber auch: Muss das geschehen? In wieweit macht diese ost-west-Differenzierung der Truppenstationierung noch Sinn? Interessiert dies überhaupt einen möglichen Gegner noch? Gibt es überhaupt einen Staat, der einen NATO-Staat – und somit die gesamte NATO angreifen würde? NEIN, den gibt es nicht. Nicht mal Putin-Russland. Und somit macht das Wettrüsten und die Stationierung der US-Raketen in Deutschland keinen Sinn.
Die geplante Stationierung von US-Marschflugkörpern in Deutschland soll für Abschreckung sorgen, schreckt aber zurecht die Menschen auf. Der Verteidigungsminister sieht eine „Fähigkeitslücke“. Ob er sich meint oder die Streitkräfte, bleibt unklar. Die USA wollen die militärische Abschreckung in Europa verstärken. Deutschland soll dabei eine wichtige Rolle einnehmen. Erstmals seit dem Kalten Krieg sollen wieder US-Waffensysteme hierzulande stationiert werden, die bis nach Russland reichen. Wozu? In zwei Jahren sollen Marschflugkörper vom Typ „Tomahawk“ mit deutlich mehr als 2.000 Kilometern Reichweite, Flugabwehrraketen vom Typ SM-6 und neu entwickelte Überschallwaffen in Deutschland stationiert werden. Tomahawk-Marschflugkörper können wahlweise mit einem nuklearen oder konventionellen Sprengkopf bestückt werden. Mit den Waffen sollen bisher in den USA angesiedelten Militärverbände offenbar langfristig nach Deutschland verlegt.
Das erinnert an den ersten Teil des NATO-Doppelbeschluss von Dezember 1979. Vier Jahre später wurden die Atomwaffen mit Bundestagsbeschluss in „Westdeutschland“ aufgestellt. Ein Beitrag für Frieden und Verständigung war dies schon 1983 nicht. Ebenso wie 2024. Die NATO behielt sich die Option eines Ersteinsatzes von Atomwaffen bis heute bei. [2]
>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>
Falsche Versprechen:
Einige ältere Mitbürger*Innen erinnern sich noch daran, dass es Zusagen gab, die nie eingehalten worden, vielleicht sogar nicht eingehalten werden sollten. Auf jeden Fall uminterpretiert wurden. Das macht misstrauisch. Somit wirkt vieles Gerede von heute über Frieden in Europa aufgesetzt und erneut verlogen. Ein Europa ohne Russland ist die EU oder das NATO-Gebiet, aber keine Grundlage für eine europäische Friedensordnung.
Außenminister Genscher forderte am 31.Januar 1990 (deutlich vor dem Zwei-plus-Vier-Vertrag) in einer großen Rede zur Zukunft der beiden Deutschlands, in der Evangelischen Akademie Tutzing von der NATO:
„Sache der NATO ist es, eindeutig zu erklären: Was immer im Warschauer Pakt geschieht, eine Ausdehnung des NATO-Territoriums nach Osten, das heißt, näher an die Grenzen der Sowjetunion heran, wird es nicht geben. […] Der Westen muss auch der Einsicht Rechnung tragen, dass der Wandel in Osteuropa und der deutsche Vereinigungsprozess nicht zu einer Beeinträchtigung der sowjetischen Sicherheitsinteressen führen dürfen.“
Genscher erneuerte bei seiner Rede auf der SIPRI-IPW-Konferenz am 9. Februar 1990 in Potsdam seine in Tutzing formulierte Aufgabe an die NATO. Ebenfalls am 9. Februar formulierte (der US-Außenminister) Baker bei seinem Treffen mit Außenminister Schewardnadse und Gorbatschow inhaltlich fast gleiche Vorschläge wie Genscher. Er soll Gorbatschow versprochen haben, wenn die USA ihre Präsenz in Deutschland im Rahmen der NATO behalte, werde deren Militärhoheit „nicht einen Zoll in östliche Richtung ausgedehnt“ werden, wie einige neue Veröffentlichungen formulieren. …[3]
Dies alles waren letztendlich Voraussetzungen dafür, dass sich die Sowjetunion überhaupt auf einen „Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“ einlässt.
1999 traten die ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten Polen, Tschechien und Ungarn der NATO bei. Somit rückte die NATO näher an Russlands Grenzen heran. Dies wurde verschiedentlich als Wortbruch von dieser Seite kritisiert, da führende Politiker von Mitgliedsstaaten der NATO im Zuge der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen der sowjetischen Seite zugesagt hätten, die NATO werde sich nicht nach Osten, über die Oder hinaus, ausdehnen, sondern man werde eine gemeinsame europäische Sicherheitsarchitektur errichten.
Nicht nur der Schweizer Historiker Christian Nünlist, sondern auch die US-Forscher*innen Svetlana Savranskaya und Tom Blanton kommen hinsichtlich der NATO-Osterweiterung „…daher zu dem Schluss, dass die Klagen russischer Politiker durchaus berechtigt seien.“ [3]
Dies alles ist trotzdem KEIN Grund, einen anderen Staat zu überfallen und Krieg zu führen!!!
Berechtigtes Misstrauen gegenüber der Politik und ihren Halbwahrheiten ist auch kein Grund AfD zu wählen.
>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>
Anstatt eines Friedensvertrages
Warum heißt der Zwei-plus-Vier-Vertrag nicht Friedensvertrag, obwohl er den Anspruch erhebt, dies zu sein und mit dem Vertragsabschluss den Kalten Krieg für beendet erklärt?
Die Annahme des Zwei-plus-Vier-Vertrages war Voraussetzung der Vier Mächte zu deren Zustimmung zur deutschen vollständigen Souveränität, da nach dem Zweiten Weltkrieg kein gesonderter Friedensvertrag abgeschlossen worden war. Der Rechtswissenschaftler Klaus Stern schreibt:
„Ein zusätzlicher Friedensvertrag ist daher weder geplant noch machte er Sinn. Alles, was ein Friedensvertrag füglich enthalten sollte, ist mithin geregelt. Der Zwei-plus-vier-Vertrag ersetzt damit kraft seines auf mehr als Frieden gerichteten Inhalts jeden Friedensvertrag mit den Kriegsgegnern.“
„Als die politisch geforderte und rechtlich notwendige Friedensregelung mit Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg markiert der Zwei-plus-Vier-Vertrag das Ende der Nachkriegszeit – Deutschland einschließlich Berlin war infolgedessen endgültig von besatzungsrechtlichen Beschränkungen befreit – und gilt als ein maßgeblicher diplomatischer Beitrag zur Friedensordnung in Europa. Der Vertrag wird als sogenannter Statusvertrag angesehen, dessen Rechtswirkungen sich auch auf dritte Staaten erstrecken.
Das bestehende Einverständnis findet sich im übertragenen Sinne in der Sprachregelung anstatt eines Friedensvertrages wieder; diese wurde auch getroffen, um „u. a. eventuell noch nicht erledigte[n] Reparationsforderungen einzelner Drittstaaten“ nicht nachkommen zu müssen. Dies bezog sich insbesondere auf Griechenland, dessen Forderungen in der Vergangenheit mit Verweis auf einen künftigen Friedensvertrag abgewiesen wurden.
An einem „Friedensvertrag“ könne man „aus finanziellen Erwägungen kein Interesse haben“, so der Staatssekretär Friedrich Voss. Es „hätte zwangsläufig alle früheren Kriegsgegner des Deutschen Reiches als potentielle Vertragspartner auf den Plan gerufen […]“, woran aber „[w]eder die Vier Mächte noch die beiden deutschen Staaten […] ein Interesse [haben konnten]“.
Insofern konnte die westdeutsche Diplomatie die unmittelbare Beteiligung anderer Staaten an der vertraglichen „abschließenden Regelung in Bezug auf Deutschland“ verhindern. Darin waren sich alle beteiligten Vertragspartner einig. Denn „die Beteiligung der europäischen Nachbarn, aller 35 KSZE-Staaten oder gar der 65 Kriegsgegner des Zweiten Weltkrieges hätte nicht nur das Verfahren unzuträglich verlängert; weitere Beteiligte hätten ihre Zustimmung vermutlich gern an die Erfüllung alter und neuer Reparationsforderungen geknüpft.“ [4]
So hat sich die Bundesrepublik 1990 aus ihrer historischen Verantwortung gestohlen. Gleiches gilt für das Grundgesetz als Provisorium. Mit einem Friedensvertrag und einer ordentlichen Verfassung für ein einiges Deutschland wäre der Staat völkerrechtlich in der Pflicht. Doch wer will dies schon, wenn der gleiche Staat nun wieder kriegstüchtig werden soll und sehr viel Geld dafür benötigt wird.
>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>
*1 Der Zwei-plus-Vier-Vertrag trat nach der Hinterlegung der letzten Ratifikationsurkunde am 15. März 1991 mit einer offiziellen Zeremonie in Kraft (BGBl. 1990 II S. 1317).
[1] Christian Nünlist: Krieg der Narrative – Das Jahr 1990 und die NATO-Osterweiterung. In: Sirius. Zeitschrift für Strategische Analysen 2, Heft 4 (2018), S. 389–397, das Zitat S. 396 (online).
[2] Tom Sauer: Nuclear Inertia: Us Weapons Policy After the Cold War. Tauris, 2005, ISBN 1-85043-765-3, S. 47.
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Zwei-plus-Vier-Vertrag#Kontroverse_zur_NATO-Osterweiterung
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Zwei-plus-Vier-Vertrag#Anstatt_eines_Friedensvertrages